Frau Elster und der eingestickte Wal
Martin Hiller hat ein radikales, zärtliches Buch über den Tod des eigenen Sohnes geschrieben. An einhundert Tagen hat der Autor das, wofür es eigentlich keine Worte gibt, aufzuschreiben versucht. Entstanden ist ein massives, wortreiches Dokument der ersten Zeit der Trauer. Im Schreiben findet das aus allen Zusammenhängen gerissene Leben als Vater und Familie einen Halt. Das Buch berichtet von der Zeit mit dem Kind, von der Zeit nach seinem Tod, vom Weiterleben mit seinem Zwillingsbruder, und geht, im Suchen nach Ankern und Artefakten aus der Zeit mit und vor den Kindern, in schonungslos autobiografische Bereiche. Was als schreibender Versuch gegen die Ratlosigkeit anfing, fand in „Frau Elster und der eingestickte Wal“ zur Form eines Buches, die das Leben in der Trauer zu einer Erzählung werden lässt, die weiter geht, als in die Trostlosigkeit.
Die nasse Luft steht richtig zwischen den Häusern. Die Straßen feucht, die Natur trieft, jedes Atmen wie ein Schluck aus der -Kelle der Welt. Auf dem Weg zum Friedhof muss ich aufpassen, nicht wieder hinzufallen. Richtiges Laubausrutschwetter. Der Hauptweg ist ungefegt, es ist Wochenende, es ist malerisch wie immer. Man muss ganz langsam und am besten keine Kurven fahren und man darf auch nicht bremsen. Ich rolle, so vorsichtig wie ich kann, zu Karls Grab. Von den Bäumen fällt Laub. Sogar da, wo keine Bäume sind, fällt Laub.
In hunderten Einträgen hält dieses Buch die ersten Tage, Wochen und Monate nach dem Tod meines kaum zwei Jahre jungen Sohnes fest. In einem Wechsel von kurzen Bruchstücken, lange strömenden, stromernden Textpassagen, nüchternen Ratlosigkeiten, metaphysischen Versuchen und prosaischen Alltagsminiaturen legt es die inneren und äußeren Zustände eines Trauernden offen. Im Text bleibt das Leben festhaltbar. Die Trauer geht in alle Richtungen. Das Buch erzählt von der gemeinsamen Zeit mit dem gestorbenen Kind, vom Weiterleben als Eltern mit seinem Zwillingsbruder, vom Schweben im Schock, vom Loch nach der Beisetzung, von Orten, Routinen und Artefakten in der Trauerarbeit.
Das Schreiben geht in die Winkel aller Zeiten der eigenen Biografie. Und so erzählt dieses Buch auch von einem Roman, an dem ich schrieb, während ich mit dem Kind für Wochen im Krankenhaus war. Es ist auch ein Schreiben über ein prekäres Künstlerleben, über Brotjobs und das alltägliche Rudern und Hadern. Und die Egalheit all dessen durch das neue Glück mit den Kindern.
Radikal, zärtlich und voller Liebe ist dieses Buch über die Trauer auch ein Ja für das Weiterleben. Es ist ein Lebensbuch über seinen Tod. Im Text finden die Worte, die es dafür nicht gibt, einen Raum. Im Text, zwischen den Buchdeckeln, bleibt das Kind in der Welt.
Martin Hiller
Martin Hiller. 1982 geb. in Ludwigslust, aufgew. in Berlin-Treptow, lebt seit 2002 in Greifswald. Ein bisschen Germanistik und Philosophie, Abschluss als Mediengestalter für Digital- und Printmedien. Jobs. Artikel für Tageszeitungen, Zeitschriften und Internetmedien über Musik und Popkultur. Experimentelle Langstrecke im Regionalradio. Musik, Minimalismus und Aleatorik. Konzerte und Klanginstallationen.
Bibliografische Angaben
Martin Hiller – Frau Elster und der eingestickte Wal
Hundert Tage Trauerarbeit. Tagebuchroman.
Kran & Weuke Verlag, Greifswald
Vorabauflage erhältlich seit 19. Juli 2023
Paperback
580 Seiten
20,00 €
Leseprobe: PDF
Kaufen: E-Mail an info@kranundweuke.de (Martin Hiller)
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