Reisetagebuch, Sizilien 2017 – Erster Eintrag
In der Kategorie „Reisetagebuch“ schreibt Martin Hiller hier von Urlaub, Reisen, Ferien und anderen, tendentiell in der Ferne verbrachten Freizeiten.
Verreisen als längerfristige Umwälzung des Alltags und das Reisen als Weg dorthin stellen mich immer vor logistische und nervliche Herausforderungen. Mein ungelenk organisiertes daily life zwischen Prekariat und Kreativität bekomme ich gerade noch so in jene strukturellen Bahnen gelenkt, die es braucht, um mit den Modalitäten des Alltags anderer Leute Schritt zu halten. Die in der Ferne verbrachte Freizeit, die gemeinhin ja als Gegenentwurf zum schnöden Arbeiten gelebt und verstanden werden will, präsentiert sich im Grundinnersten jedoch als ebenso kompliziert und dabei taten- und pflichtenreich.
Urlaub – der kleine, nicht weniger pflichtenreiche Schwippschwager von Arbeit
Der Urlaub als solcher – so ars-vivendi-mäßig er von Natur aus eigentlich ja sein sollte – ist in der Vorstellung und Vorplanung für mich immer ein ziemlicher Logistikgrusel. Was pack‘ ich ein, wo muss ich hin, wie kommt man überhaupt da hin? Manchmal reise ich deshalb einfach bei irgendwem mit, als orientierungslos mitschlackerndes, drittes Rad am Wagen. Wenn man erstmal da ist, im Urlaub, ist es ja auch schön. Aber der Weg dahin, gerade wenn er in mehrere Etappen gegliedert ist, ist immer eine ziemliche Hudelei.
Von Tegel nach Catania: 8 Stunden Flight Delay nach Sizilien
Dieses Jahr geht es nach Sizilien. Das heisst schon wieder Fliegen. Flugzeuge sind mir ungeheuer. Bisher war ich zum Glück noch nie abgestürzt oder anderweitig in flugverkehrstechnische Brisanzen gekommen. Aber jedes Mal wenn ich mich zum Zwecke des luftbewegten Ortswechsels zwischen die stählernen Flügel so eines Kolosses begebe, überkommen mich Zweifel und Unbehagen. Wie das überhaupt gehen soll, so einen zigtonnenschweren Apparat zum Fliegen kriegen, frage ich mich jedes Mal. Vögel klar, die können fliegen. Die haben hohle Knochen und Gefieder. Aber ein Monstrum aus zusammengenietetem Stahl, mit tösenden Turbinen und Bordtoilette ist nunmal keine Meise.
Dieses Jahr fliegen wir morgens. Das bedeutet: Aufstehen um fünf. Man liest ja immer von irren Reisepannen, von Frust und Frevel im Flugbetrieb. Ich blieb von sowas bisher immer verschont. Ein kurzer, frühmorgendlicher Sicherheitsblick (ich möchte ja ein planungsbewusster Reisender sein) auf die Abflugspläne online sagt: Flug verspätet sich um vier Stunden. Nagut, kann vorkommen. An so einem Flughafen ist schließlich ’ne Menge los, da kann es schonmal drunter und beizeiten auch drüber gehen. Trotzdem fahren wir – planungsbewusste Reisende, die wir sind – besser schon zur eigentlichen Flugzeit hin, man weiß ja nie. Nachher – hupsi! – ist das Flugzeug doch schon da.
Am Gate: Warten auf Air Berlin
Unsere Maschine geht ab Tegel. Die Maschine ist natürlich noch nicht da. Die nächsten Stunden wird der tegelsche Flughafenkomplex, dieser wuchtige Architekturbruder von Stammheim, in dem die Gebäude aussehen wie Festungen aus Starship Troopers, unser Wartezimmer sein. Das flight delay verschiebt sich nochmal um paar Stunden nach hinten. Nichts genaues weiss Niemand und wir hängen unwissend auf den blauen, harten Sitzmöbeln in der Wartehalle vor den Gates. Wie beim Arzt. Wie auf dem sprichwörtlichen Amt. Stunden vergehen. Ein Verzehrgutschein in Höhe von fünf Euro pro Person beschert uns etwas Beschäftigung. Zeitvertreib mit Essen. Es ist ja Urlaub. Ansonsten meditiert man so in sich hinein, der Wartezeit ausgeliefert.
Um uns herum halten sich die deutschen Durchschnittstouris mit verschiedenen Stadien der Wut bei Laune. Man schimpft, meckert und fühlt sich betrogen. Das deutsche Sentiment findet sich hier, im Ärger über nichterbrachte Leistungen, auf das Wesen komprimiert: die Frustration des kleinen Mannes läuft hier im buntem Freizeithemd, kurzer Hose und rauchender Rübe spalier. Die da oben. Danke Air Berlin. Danke Merkel.
Mir ist alles egal. Je weniger passiert, desto planungssicherer ist es für mich. Aber so langsam könnten wir dann vielleicht doch mal losfliegen, damit ich diese unwirkliche, mir also eher suspekte Art der Fortbewegung – dieses hanebüchene Fliegen – endlich hinter mir habe.
Im Flugzeug: Warten auf besseres Wetter
16.30 Uhr. Der Flug wird tatsächlich ausgerufen. Nach acht Stunden nur zähem Informationsfluss von denen da oben. Das Gate ist offen. Der ganze Wartesaal jubelt (natürlich nicht ohne eine Beinote des Hohns). Erleichterung und Urlaubslust durchbrechen den krustigen Frustpanzer aus deutscher Aufregermentalität und Scheisslaune wegen Warten. Draußen klart auch das Gewitter kurzzeitig auf. Magic world of Airport.
Nachdem alle irgendwie in den Billigflieger hineinverladen sind (ich sitze fensterseitig mit Blick auf die Tragfläche, hilfe!), wendet sich der Pilot im etwas zu smarten Tonfall eines Conférenciers an die leicht aufgekratzte Meute. Hier muss jetzt – die Leute wollten eigentlich schon längst ihre Schenkel in der sizilianischen Sonne bräunen – Gemüterbesänftigung betrieben werden.
O Captain, My Captain – Der Pilot versucht zu besänftigen
Piloten haftet immer etwas sehr Weltmännisches an. Sie sind Männer (statistisch eher seltenener Frauen) von Welt. Graue Schläfen, drahtiges Wesen, Anzug sitzt. Können ganze Sätze bilden. Wirken dadurch eventuell schnöselig und blasiert. Besonders in der rauchenden Rübe eines wütenden Strohhuttouris, der sein ganzes kleines Scheissgeld in diese zwei kleinen Scheissurlaubswochen hineininvenstiert hat und die letzten acht Scheissstunden (gewissermaßen seinen ganzen, ersten Scheissurlaubstag) ratlos auf dem Scheissflughafen rumwarten musste. Ich habe ja Verständnis für all den Frust, aber könnte man sich nicht bitte etwas leiser ärgern? Ist ja schließlich Urlaub hier.
Der deutsche Sonnentourist reist dieses Jahr, das fällt auf, in lachsrosafarbener, kurzer Leinen- oder Chinohose. Dazu wahlweise was von Camp David oder KIK, jedenfalls irgendwas mit bunter Schrift drauf, obenrum. Sinngehalt egal, hauptsache schnörkelig. Classic white Mittelstand.
Ich selbst Reise auch wieder – wo es hier doch schon in Tegel so schwül ist – völlig fehlgekleidet, in Anzughose und gummibesohlten Turnschuhen. Zum Friseur habe ich es auch wieder nicht geschafft. Ich sehe aus wie ein Strauch. Struppig, aber ungefährlich. Irgendwie windschief, verwachsen. Keinesfalls wie einer, der jetzt in die Sommerfrische geht. Aber egal, Urlaub ist schließlich auch etwas von Innen heraus. Urlaub is a feeling.
Während meine über den Wartetag gut gegarten Strümpfe in meinen Schuhen so ihre biochemischen Experimente treiben, versucht sich der Captain weiter an Erklärungsansätzen für die vergangene, stundenlange Wartezeit. Keiner wusste so richtig von irgendwas und er und die Crew wurden quasi spontan hierher berufen, um den Vogel doch noch ans Reiseziel zu wuchten. Grummeln im Passagierraum. Direkt vom Pool ins Cockpit, oder was?! Die da oben!
Ärger als Arbeit, Groll als Pflicht
Gemeinsam in Not- und Wartesituationen geworfene Menschen sind ja schnell sehr austauschfreudig. So habe ich in den letzten acht Stunden viel über das Schicksal und den Scheissladen von Air Berlin zu hören bekommen. Die Situation für die Fluggesellschaft ist heikel. Seit Monaten läuft da irgendwas schief. Gepäck geht kaputt und verloren, Flüge werden gestrichen und die mediale Schelte ist groß.
Dann das, was kommen musste: wir dürfen nicht aufs Rollfeld. Das Gewitter hat wieder eingesetzt. Erwartete Wartezeit: 30 Minuten. Katerstimmung dämpft die Alles-egal-hauptsache-endlich-mal-los-hier-Laune der in die engen Sitzreihen hineingeschnallten Passagiere. Als gute Geste gibt es Kaffee satt und Schokoherzchen mit Air-Berlin-Logo drauf. Wahnsinn. Die Meisten hier lachen natürlich spöttisch über diese ungelenken Wiedergutmachungsversuche. Hier scheint nur noch mit Freisuff, Kaviar und kofferweise Ausgleichsgeld was wiedergutmachbar. Ich sehe seitenweise Zeitungskolumnen von sich volksnah gebenden Aufstachel-Populisten vom Schlage Claus Strunz und Co. vor mir. Ja, ich sehe ganze Mario-Barth-Abendformate vor mir, in dem er, als vermeintlicher Anwalt der kleinen Leute, als Sprachrohr der Abgehängten und – hier in allen Wortsinnen – Unabgehobenen Air Berlin mal ordentlich auf die Finger fühlt und haut. Wenn im Urlaub etwas nicht nach Plan läuft, kennt der deutsche Wutpassagier kein Pardon. Da wird der Ärger dann zur Arbeit, das Stänkern zur Pflicht. Alles Scheisse, nächstes Jahr wieder an die Ostsee. Meinlieberscholli. Halleluja. Diedaoben. Klagebisvorsbundesverfassungsgericht. Uswusf.
Die deutsche, in den Süden wollende Volksseele grollt
Mich strengt der Ärger der Leute um mich herum mehr an, als die Warterei selbst. Warten tut an sich ja nicht weh und stellt keinen direkt erlebbaren Nachteil dar. Warten bedeutet ja nur die Abwesenheit dessen, was – laut Wunsch, Planung und Vereinbarung – eigentlich schon da sein soll. Warten kann halt mal passieren. Denke ich mir so einfach in meiner teilnahmslosen, als Askese und Weltentrückheit getarnten, phlegmatischen Art. Noch.
Die deutsche, jetzt endlich mal in den Süden wollende, Volksseele um mich herum hat anscheinend schon lange genug von all dem Unbill dieser Reisestrapazen. Da lässt sie keine Gelegenheit aus, das möglichst Viele, auch Unbeteiligte und für das flight delay selbst Unverantwortliche spüren zu lassen. Urlaub hat also immer auch was mit der nicht so richtig planbaren und unkontrolliert gehäuften Anwesenheit anderer Menschen zu tun, das hatte ich fast vergessen.
Fatalerweise – ich war seit fünf Uhr heute morgen nicht mehr auf dem Klo – hau‘ ich mir den Freikaffee natürlich in rauen Mengen (den Wirt, der uns hat Warten lassen, schröpfen wo es nur geht) in meinen müden, von der Herumwarterei in der Flughafenhallenluft ganz fleckigen Leib. Ich ahne eine dieser reisebedingten Verstopfungen in mir gären.
Flugfähig trotz mangelnder Meisenhaftigkeit
Ein Ruckeln reisst mich aus meinen Handynotizen. Es geht los. Es geht jetzt wirklich los. Das Blechmonster setzt sich in Bewegung. Wir rollen auf Startposition. Dieses Biest will jetzt in den Himmel. Auf dem Asphalt noch die Gischt des just vor uns gestarteten Flugzeuges. Durchschnittliche Startgeschwindigkeit 285 km/h (ich habe alles Lesbare – das Bordmagazin, die Sicherheitshinweise und die Kotztüte – in der Sitztasche vor mir längst durchgeblättert).
Dann verlieren wir Bodenkontakt. Die Tragflächen schneiden sich schräg in den Wind und heben die Maschine hoch wie ein dickes, träges Kind. Ich sitze am Fenster und schaue sehr interessiert in meine inneren Ängste hinein. Nach den üblichen Überlegungen hinsichtlich der mangelnden Meisenhaftigkeit von Flugzeugen sind wir dann doch über den Wolken, in einigermaßen rüttelfreier Luft. Meine Hände entkrampfen sich etwas von der Lehne, in die sie sich Halt suchend hineingegraben hatten.
Ein Pale Ale aus der Büchse – irgendeine Hipsterbrauerei mit der Air Berlin einen Deal hat – tut sein Weiteres zur Entspannung und ich wage einen Blick aus dem Fenster, wo die Wolken – bei einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 885 km/h – siruplangsam, weiss und hochgestapelt stehen wie steif geschlagene Sahne.