Reisetagebuch, Sizilien 2017 – Zweiter Eintrag
In der Kategorie „Reisetagebuch“ schreibt Martin Hiller hier von Urlaub, Reisen, Ferien und anderen, tendentiell in der Ferne verbrachten Freizeiten.
Nagut, Air Berlin, mit neun Stunden Verspätung hast du uns ja dann doch noch nach Sizilien geflogen. Im Sonnenuntergang erreichte die rappelvolle Maschine vor pittoreskem Ätna-Panorama dann den Flughafen von Catania. Auch die grumpeligsten, vom vielen wütend sein ganz müde gewordenen Toddertouris schienen erstmal besänftigt.
Etwas blöd war dann, dass zwar wir, jedoch nicht unser Gepäck nach Sizilien geflogen wurde. Auch nach endlosem Warten am ewig rotierenden Förderband spuckte das von schweren, schwarzen Gummifransen verhüllte Kofferloch, hinter dem die geheimnisvolle, unsichtbare Flughafengepäckabfertigung ihrem logistischen Wunder nachgeht, unseren neu erstandenen Koffer nicht aus. Nur eine nicht abgeholte Reisetasche und ein lädierter Kinderbuggy drehten endlos traurig ihre Runden. Ich bin grundsätzlich ein großer Freund von solchen einsamen, trostlosen Szenarien und es hätte jetzt hier nur noch John Lurie gefehlt, Saxophon spielend an einen Pfeiler gelehnt: es wäre fast wie in einem frühen Film von Jim Jarmusch.
Kabbeleien am Lost Baggage
Für spröde Autorenfilmromantik ist jedoch keine Zeit: es muss jetzt der Gepäckverlust ordnungsgemäß und mit sachrelevanten, der Koffersuche dienlichen Hinweisen dem Flughafen gemeldet werden. Am Lost Baggage-Schalter kommt die alte, beim Warten in Tegel angestaute Wut im Tross der Touris wieder hoch. Wir sind nicht die einzigen mit Frachtverlust. Mir ist wieder alles egal. Nach einiger Ansteherei und kleineren Kabbeleien mit offenbar, bei all dem Unbill dieses Tages, halb wahnsinnig gewordenen Wartenden, füllen wir irgendwelche Formulare aus und sollen die Tage nochmal durchrufen, ob das Gepäck eventuell wieder aufgetaucht ist. Weg sein kann es ja eigentlich nicht, denke auch ich mir und habe eventuelle Gefühle von Wut und Ärger längst wieder erfolgreich in eine Art Trance aus Teilnahmslosigkeit umkanalysiert. Es muss ja tegelseitig da schon was schief gelaufen sein, wenn unsere verspätete Maschine das Zeug nicht in ihrem Bauch hatte. Unser Gepäck ist wahrscheinlich im tegelschen Gepäck-Backstage irgendwie aufs falsche Fließband gepurzelt und befindet sich jetzt geradewegs auf einem Interkontinentalflug nach New York oder Nowosibirsk.
Weit nach Mitternacht kommen wir dann irgendwie doch noch ins Hotel und wachen am nächsten Tag mit dem schalen Geschmack im Mund auf, den man eben hat, wenn man eine Weile keine Zähne geputzt hat. Alle Hygieneartikel sind ja im verschollenen Gepäck. Im Handgepäck habe ich eigentlich nur Brillen, Bücher, Kopfhörer und ein Ladekabel. Mit Flüssigkeiten – egal ob zur äußerlichen Hygieneanwendung oder zur durststillenden Einnahme – wage ich da gar nicht erst irgendwelche Experimente, in der Befürchtung, die würden mir beim Sicherheitscheck sowieso abgenommen werden. Haltet diesen Mann, er hat ein Pröbchen Flüssigseife, eine kleine Flasche Mineralwasser und ein Erfrischungstuch dabei – Alarmstufe rot, Leibesvisitation, lebenslänglich Popohaue. Das wollte ich mir ersparen und lebe jetzt – hier im Urlaub – mit dem was ich so am Leib trage. Urlaub ist eben auch die Abkehr vom Alltäglichen.
Schlüpferspülung mit Hotelseife
Gestern Nacht hatte ich immerhin noch meine Unterhose mit Hotelseife durchgewaschen. Das trocknet hier, im sizilianischen Sommer, ja in null komma nix. Auch nachts.
Die Fluggesellschaft kommt im Verlustfall, in einem bestimmten Finanzrahmen, für die Neu-Anschaffung grundnotwendiger Gebrauchsdinge des Alltags auf. So hieß es am Lost Baggage-Schalter. Was damit genau abgedeckt ist und inwieweit verschiedentlich geartete Comfort Zones damit abgedeckt sind, ist nicht näher definiert. Egal. Erstmal shoppen gehen: Duschgel, Flip Flops (damit man mich schon von weitem als größtmöglichen Trottel hier erkennen kann), Badehose, so Zeug. Wir müssen natürlich erstmal auslegen, können uns das dann aber per Belegseinreichung von Air Berlin zurückerstatten lassen. Da mir allein die Vorstellung des Zettelkrieges und der bürokratischen Komplikationen die damit zusammenhängen jetzt schon zuviel sind, hege ich da keine größeren Erfolgsaussichten und verkneife mir – bis auf meine erste kurze Hose seit Jahren – extrawurstige Frustkäufe.
Ich habe es getan: erste kurze Hose seit Kindertagen
Es ist also tatsächlich passiert: ich habe meine erste kurze Hose seit Kindertagen gekauft. Meine lange Anzughose, die ich fürs Reisen, für den Flug ganz angemessen fand, wurde mit jedem schwitzenden Schritt innen schon zunehmend salzig.
Ich bin eigentlich kein Mann, der sich selbst Mann nennt und irgendwelche damit verknüpften Style- und Mode-Ideale hat.
Ich finde die Idee, sich nicht total bescheuert anzuziehen im Allgemeinen sehr schön und habe, obwohl ich längst im Alter dazu wäre, beispielweise keine bunte Wetterfunktionskleidung an der Garderobe zu hängen. Darin fühlte ich mich als Kind schon seltsam verkleidet (hatte aber natürlich auch überhaupt kein anderes Verständnis von Mode oder Stil, das ich dem hätte entgegen setzen können). Schuhe sind für mich Gebrauchsgegenstände, die meine müden Füße als eine Art dicke Strümpfe für draußen umfassen. Meine Füße finden soweit von meinem Kopf entfernt statt, dass ich selten mehr Gedanken als notwendig an sie verschwende. Dass ich mal wieder Fußnägel schneiden könnte, wird mir entweder mitgeteilt oder zeigt sich mir in Form kaputter, vorne wie von Dolchen durchstoßenen Socken.
Männer in kurzen Hosen
Jedoch: mit Männern in kurzen Hosen verbinde ich schon seit den Tagen meiner kruden Adoleszenz, die – vom Sportunterricht bis zu den Fußballprolls im Umfeld – stark mit der Abneigung gegen herkömmlich als männlich konnotierte Lebensbereiche und -phänomene verbunden war, immer etwas ziemlich Absonderliches. Männer in kurzen Hosen singen Ballermannlieder und leiten Konzerne oder Autohäuser. Männer in kurzen Hosen geben kein Trinkgeld und sitzen breitbeinig in der S-Bahn. Männer in kurzen Hosen trinken Desperados und Becks Gold. Männer in kurzen Hosen haben Zeitungs-Abonnements und lesen nur den Sportteil. Männer in kurzen Hosen haben in ihren Gärten Grills so groß wie Schmalspurlokomotiven. Männer in kurzen Hosen verjagen die Nachbarskatzen mit Fußtritten. Männer in kurzen Hosen tragen Strohhüte mit schwarzrotgoldenen Zierbändern. Männer in kurzen Hosen haben Hobbys. Männer in kurzen Hosen sind offenbar ein weiterer, deutscher Stilirrtum, denn von den Ortsansässigen rennt niemand hier in kurzer Hose herum.
Weil es hier aber 38 Grad hat und ich, Hyptertoniepatient, eine ziemlich lange Akklimatisierungsphase habe und nicht gleich am zweiten Reisetag einem Hitzeschock zum Opfer fallen wollte, habe nun auch ich eine kurze Hose. Kniefrei! Mehr und mehr gefällt mir das sogar. Nicht zuletzt, weil mir in meiner langen Salzhose längst die Beine gar geworden wären. Es sieht natürlich etwas albern aus. Wie ein Storch. Ich hatte ganz vergessen, was für amorphe Knorpelkolonien meine Knie – natürlich alles schlohweiss da untenrum – eigentlich sind. Aber ich fühle mich in meiner blau gemustertern Shorts befreit und frisch wie ein Springinsfeld. Vielleicht ist das mit der kurzen Hose sowas wie mit der Fahrerlaubnis: ich habe meine erst ziemlich spät gemacht und fühlte mich nach dem Bestehen auf kindliche Art wie ein gemachter Mann, der sein Leben im Griff hat und dem jetzt die Welt offensteht. Trotzdem finde ich mich auch heute noch, als Fahrerlaubter, Kurzbehoster und Antragsteller einer Kostenrückerstattung, irgendwie fehlbesetzt. Diese Momente der plötzlich deutlichen Teilhabe am Leben von richtigen Leuten irritieren mich zuweilen, weil ich mich dort fühle, wie ein unerwünscht ins Zimmer gestolpertes Kind, das seine Spielsachen sucht – bei Bewerbungsgesprächen, bei Mietsachen und Steuererklärungen, beim Unterschreiben oder Ausstellen von Rechnungen, bei beruflichen Fachsimpeleien am Katzentisch der Hochzeit eines entfernt bekannten Paares, beim Auswärtsessengehen, beim Wochenendeinkauf mit dem Auto.
Wer neben den Schilderungen schrulliger Neurosen in so einem Reisetagebuch auch landes- und landschaftskundliche Berichte über die bereiste Region lesen möchte, sei auf die folgenden Kapitel verwiesen. Vielleicht findet sich dort – in ein, zwei Einschüben oder Nebensätzen – auch mal Platz für solche kauzigen Geplänkel. Bis dahin sei auf die kretischen Notizen des letzten Jahres hingewiesen.