Wie ich jüngst günstig Sven Marquardts Autobiographie kaufte. Ein Text und zwei Bilder
Wie ich jüngst günstig Sven Marquardts Autobiographie kaufte. Ein Text und zwei Bilder.
Ich schrieb an anderer Stelle schon mal über meinen Hang zu täglichen, kleinen, ja geradezu Mikroeinkäufen. Wenn es meine Lohnarbeit zeitlich zulässt, gehe ich oft am Vormittag, ungewaschen, müde und unterzuckert, meine Runde durch die Regale des – je nach Einkaufsziel und monetärer Lage – ausgesuchten Supermarktes oder Rumpeldiscounters. Jüngst führte mich mein Gang zum Kauf eines Bechers Crème Fraîche in den örtlichen Plusnetto hinterm Bahnhof. Der ist eigentlich gar nicht mehr im Einzugsgebiet des Nahbereichs meines Wohnortes und meine Besuche dort folgen keiner Stadtplanerlogik. Ich fahre schlicht gelegentlich gern zu genau diesem Einkaufsladen, gleich neben der Spielhalle und nicht weit weg von Friedhof und Caspar-David-Friedrich-Blick, weil mich der Weg dorthin durch die pittoreske Tristesse der Verlängerten Scharnhorststraße führt. Vorbei an den zweierlei Schrebergärten: rechter Hand die Crystal-Meth-Baracken, in denen sommers unter der brütend brutalen Mittagshitze Hahnenkämpfe stattfinden und nachts die Hunde wirr den Mond anbrüllen. Diese hinter ihren Wellblechzäunen kaum einsehbaren Sparten grenzen an einen struppigen Tümpel, um den Jogger ihre trägen Runden mahlen und an dem im Sommer die Studenten ficken oder zumindest ein, zwei Club Mate trinken und zerbeulten Cloud Rap über ihre Bluetooth-Boomboxen hören. Und zur linken Seite in Fahrtrichtung die Datschen-Kommune „Fortschritt“ aus gemäßigten Freizeitrednecks, regulären Spießern und jungen Öko-Eltern mit Hochbeet und Insektenhotel. Auf der nahegelegenen, großen Wiese, die nach Süden hin von einer Reihe Pappeln und straßenseitig von einem kleinen Rinnsaal umsäumt wird, werfen Leute mit Windjacken und wenig Freizeit ihren überdimensionierten Hunden (ein Husky musste es zu Eigenheim und Audi dann auch noch sein) unterschenkelgroße Stöcke zum Nachjagen hin. Bei Regenwetter wechseln Kröten über die brüchige Straße zwischen Wiesen- und Tümpelseite. Welchen schöneren Weg sonst gäbe es zu einem Supermarkt am Rande der Stadt …?
Der Supermarkt in der Grimmer Straße hinter den Gleisen ist oft ähnlich angenehm unaufgeregt, wie meine Radroute über die Verlängerte Scharnhorststraße dorthin. In den Regalstirnseiten mit den mehr oder weniger wöchentlich wechselnden, in jedem Fall aber täglich von den Kunden neu zerwühlten Aktionswaren sieht es nicht immer so superordentlich aus, wie anderswo und die Reihe mit den Soft-Getränken mutet an, als würden dort Rugby-Turniere ausgetragen. Jedenfalls sehen die folienverschweißten Billigbrausen-Sixpacks, umrahmt von wie wahllos dazwischen geschmissenen Einzelflaschen und einfach so liegengelassenen Dochnichtkäufen („achnee, doch kein‘ Hunger auf Waldorfsalat und Schlackwurst heute“) immer so zerrupft aus, wie ich mich dort morgens fühle. Kurzum: ich schätze das trübe Chaos unter den Neonlampen sehr.
Manchmal hat’s auch gute Angebote da. Letztens sogar Bücher. Der Ullstein Verlag hatte wohl noch paar Kisten „Mängelexemplare“ loszuwerden. Zwischen den üblichen Krimis (ein Genre, dem ich ebenso gedruckt wie verfilmt nur schwer Reize abgewinnen kann, weil ich bei allem, was mehr als zwei Protagonisten hat, den Überblick verliere) lag in der Grabbelkiste, gleich neben dem Weckgemüse, diese Autobiographie von Sven Marquardt (ihr wisst: DDR-Punk / Photograph / Typ vom Berghain, vor dem die Partytouristen immer so schrecklich Angst haben). „Die Nacht ist Leben“. Ach stimmt, da war ja was. Nicht nur der schlotige Rauch über den Laubfeuern der Schrebergärten, nicht nur der Wind auf der taunassen Pappelwiese, nicht nur das Klingeln der Radfahrer, die durch die Unterführung bei den Gleisen rauschen, nicht nur mein Crème Fraîche, sondern auch die Nacht, dieses glimmende Verheißungsvehikel ungeträumter Wünsche, ist dieses sogenannte Leben. Und am Ende landen auch sie, all diese kaputten, er- und zerlebten, diese heeren, zehrenden Nächte, auch die landen letztlich im Bücherkonvolut bei deinem kleinen Discounter. Auf eine ganz besondere Weise der Glanzlosigkeit finde ich das sehr entzückend und absolut richtig. Denn auch Einkaufsladen ist Leben.