Zonic Radio Show Nord, 04.02.2010 – Tocotronic – Schall und Wahn
Es ist vollbracht. Die zum eleganten Altherren-Quartett gereiften Wortfloristen Tocotronic präsentieren mit „Stall und Hahn“* ihr neues Album.
Allen Freunden der frechen Frisuren, kecken Latzhosen und stabgereimten Irrwitz-Moderationen muss an dieser Stelle leider mitgeteilt werden: Mit Inka Bause und frauensuchenden Bauern hat das hier nichts zu tun.
Das Suchen jedoch findet auch auf dem neunten Album – *das übrigens eigentlich den Namen „Schall und Wahn“ trägt, hab‘ nur Spaß gemacht – seinen frenetischen Widerhall in der zuweilen stallgroß-dionysischen Übermuts-Lyrik Dirk von Lowtzows.
Von Wiedehopfen und Wortgärtnern
Als Wortgärtner pflügt er sich durch allerlei Arten Zweifelssaaten, beackert frucht- und furchtbares Vielstromland zwischen Teufel, Terror, Tyrannei und allen Zwischenstufen und erntet stachlige Früchte in ornamentalen Zerrissenheitsstürmen.
Kein Fleurop-Pop, eher pieksige Avant-Apokalypse aus der Fieberwahnrockmühle.
Schmuck- und salbungsvoll reimen Tocotronic im Jahr 2010 Dichter auf Vernichter und tirilieren wie freche Wiedehopfe „Bumms! und Bi! – Bitte osszilieren Sie“.
Natürlich gern! Nur her mit all dem Schwindel.
In taumelndem Zweifelskreisel schwankt man die bekannten drei schritte vom Abgrund entfernt und manifestiert mit felsenfestem Absolutheits-Unmut: „Im Zweifel fürs Zusammenklappen vor gesamtem Saal. Mein Leben wird Zerrüttung, meine Existenz Skandal“.
Statt Qual ist die Schlussfolgerung der Umstände heute die Skandalwerdung der eigenen Existenz. Der Hass auf all die Deppen kommt nicht mehr als juvenil-verschacheltes Befindlichkeitsgetexte in Trainingsjacke ums Eck, die Provokation ist hier das Verhuschte, Unfassbare – Zerwürfnis als Protest gegen tumbe Stammtisch-Polterei.
„Schall und Wahn – ich bin euch zugetan“
Neben allem geisterhaften Wankelmut ist das alles aber auch ein riesengroßes Tollhaus aus Jux und Dollerei. Eine Anstalt zwischen Albernheit und Argwohn, durch deren halbluzide Splitterfenster ein leiser Hauch von Terror unter die vom Selbermachenswahn müde gewordenen Augenlider weht.
„Macht es nicht selbst“ ist da die Affirmation sich dem Drang zur individuellen Zwangsverortung, der Pflicht zur felsenfesten Identität zu entziehen. All die OBIs, Hornbachs und Praktiker – die Saloons des kleinen Mannes. Die Bohrmaschine der Colt im Halfter des wesenslosen Gruppenarbeitstiers, ledrig und vergesslich geworden, durch all die Fremdbestimmtheit.
„Die Einführung der fremdbestimmten Freizeit ist der Preis
Den wir bezahlen um den Gruppensektor zu besuchen
Wir versuchen zu begreifen dass hier alles möglich ist
So zerbricht man sich den Kopf“
(Tocotronic – Hier Ist Der Beweis, 2002)
Aus all den zerbrochen Köpfen formt Dirk von Lowtzow auf „Schall und Wahn“ abermals einen giftigen Strauß blumiger Worte und schließt damit die sogenannte Berlin-Trilogie ab.
Was auf „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“ 2005, nach vorherigen Ausflügen in Ornament-Pop („Tocotronic“, 2002) und schillerndem Spätneunziger-Indie auf gleicher Welle mit Pavement („K.O.O.K., 1999), noch die Rückkehr zur musikalischen Rockrohheit und Hinwendung zum Mystizismus war (die Band, die früher noch Krikel-Krakel-Comicvögel und putzige Parolen auf ihrem Merchandising hatte, kommt plötzlich mit Pilzen aus dem Zauberwald daher), festigte sich auf „Kapitulation“ (2007) zu erwachsen gewordenem Zustandsunmut mit verschwurbelt eskapistischer Note und blüht auf „Schall und Wahn“ nun in giftigen Blumen zum Wissen um den Fakt: „Die Folter endet nie“
Es ist immer noch Sloganeering für die Suchenden.
Wo in den Anfangsjahren noch von Kleinkunstverachtung, Eissorten und Radfahrern gesungen wurde, las sich die Zeitschrifteanzeige zum Wandelalbum „K.O.O.K.“ 1999 wie folgt:
„Volle Power! Depressionen! Aberwitzig! Postmodern!“
Große Worte, an denen es zu wachsen galt.
Mittlerweile befinden sich Tocotronic im 18 Jahr der Bandgeschichte und sind somit volljährig.
Wie jedes Album der fabulösen Vier bietet auch „Schall und Wahn“ amüsanten Zeitvertreib. Etliche Zitate, Einflüsse und Widersprüche gilt es zu entdecken, hervorzuhieven, von allen Ecken an- und umzudeuten und zu dem Schluss zu kommen: die Idee ist nach wie vor gut, doch die Welt noch nicht bereit.
Man könnte ewig so weitermachen und Zitat an Zitat reihen und sich schwindlig deuten.
Letztendes gilt aber auch wieder, wie Mutter schon sagte(n):
„Es ist nur Musik“
(Mutter – Es ist nur Musik, 1994)
… und wie sang schon Dirk zusammen mit Egoexpress:
„Man muss immer weiter durchbrechen“
(Egoexpress feat. Dirk von Lowtzow – Weiter, 1999).
Der sogenannte Durchbruch ist tatsächlich gelungen.
„Schall und Wahn“ ging von Null auf Eins in die Albumcharts.
Ausserdem in dieser Zonic Radio Show Nord:
Von alten Säcken, die blumig singen, zu ebenso alten, im Ansatz mittlerweile ähnlich pathospeitschenschwingend musizierenden Klangverführern: Mercury Rev haben ihre gesammelten Peel Sessions auf 2 CDs veröffentlicht.
Gegründet als psychedelisch-konsequentere Weiterführung der frühen Flaming Lips, stilisierten sie sich im Lauf der Jahre, besonders mit ihren „Deserters Songs“ zur dünkelhaften Meisterschaft im Schreiben eleganter wie betörend schiefgelegter Rococo-Psychedelia.
Ihr Free-Noise-Funkel-Psychpop reiht sich ganz wunderbar ein in diesen Reigen flimmernd-pieksiger Schall- und Wahnwellen und bildet den zweiten Schwerpunkt der Sendung.
Stall und Hahn im Fieberwahn.
Tocotronic treiben die Klabauterkühe durchs Dorf.
Saustark!
Zonic Radio Show Nord
Do. 04. Februar 2010, 20 Uhr
radio 98eins, Greifswald
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